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Samstag, 25. März 2023

»Das Schloss« Entstehung

An dieser Stelle soll nun etwas über die Entstehung dieses Romanfragments gesagt werden. Beginnen wir mit den nahen Eindrücken Kafkas in seiner Heimatstadt. Da ist zunächst einmal der Ausblick des Autors aus dem Fenster seines Geburtshauses.


Von Kafkas Geburtshaus sieht man die nahe Teynkirche, als wäre sie fern, und den fernen Hradschin, als wäre er nah. Hoch ruht das Prager Schloss auf dem Felsen oberhalb der Moldau, aber die unteren Fenster des Palastes liegen knapp über den ansteigenden Dächern der Kleinseite. Ist diese alte Burg Kafkas Schloss oder dessen Inspiration oder gibt es anderen Quellen?


An seinem letzten Roman »Das Schloss« arbeitete Kafka von Ende Januar bis Ende August 1922. Begonnen wurde die Niederschrift in Spindelmühle im Riesengebirge, abgebrochen wurde sie im westböhmischen Planá nahe der deutschen Grenze, in einer Sommerwohnung, die seine Schwester Ottla angemietet hatte. In diesen Zeitraum fällt Kafkas endgültige Pensionierung in der Arbeiter-Unfallversicherung.


1922 war Kafka ein Schriftsteller, der nicht mehr schreiben konnte. Seine literarische Tätigkeit, immer in Schüben hervorbrechend, lag seit einiger Zeit brach. Schon ein Jahr zuvor hatte er im slowakischen Matliary während einer Kur monatelang ganz auf schriftstellerische Arbeit verzichtet. Aber die Abgeschiedenheit des Ortes, die klare Schneeluft, die in der Ferne dämmernden Schemen von Häusern, Brücken und Wald setzen in Spindlermühle seine literarische Einbildungskraft neu in Gang. Wenige Tage nach der Ankunft entwickelt Kafka die Skizze einer Begrüßungsszene in einem Wirtshaus, die dann in die Beschreibung der Ankunft des Helden im nächtlichen Dorf übergeht. Innerhalb von drei Wochen entstehen vermutlich die ersten 37 Manuskriptseiten des "Schloss"-Romans.


Nach dem fulminanten Beginn in Spindlermühle gelingt es Kafka noch bis zum Juli 1922, seine Produktivität auf höchstem Niveau zu halten. Sein Problem lag darin, dass er eigentlich nur an einem Stück schreiben konnte, wie es ihm erstmals in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 glückte, als die Novelle »Das Urteil« entstand. Für ausgedehnte Romankonstruktionen bildete die Abhängigkeit von tranceartiger, auf das Äußerste gesteigerter Konzentration eine denkbar ungünstige Hypothek.


Im Fall des "Schloss"-Projekts begannen die Stockungen im Sommer 1922. Mitte September 1922 erklärt Kafka frustriert, er habe "die Schloss-Geschichte offenbar für immer liegen lassen müssen". Bis zu seinem Tod am 3. Juni 1924 wird er das Manuskript nicht mehr anrühren und nur seinem Freund Max Brod die Lektüre gestatten.


Der Abbruch des Romans geht wohl vor allem auf die psychische Instabilität Kafkas zurück, der im Herbst 1922 mehrfach Angstattacken erlitt. Das Manuskript, das gegen Ende ungewöhnlich lange Streichungen enthält, offenbart jedoch auch formale Probleme: Anscheinend hatte Kafka Schwierigkeiten, die zunehmende Zahl von Figuren und Erzählsträngen noch miteinander in Einklang zu bringen.


1926 veröffentlichte Brod eine erste Lesefassung des Schloss-Romans mit zahllosen Eingriffen und Glättungen. Sie sollten den Eindruck erwecken, als handelte es sich um ein annähernd fertiges Werk, dem lediglich der Schluss fehlte.


Als Malcolm Pasley 1982 für die Kritische Edition des Fischer-Verlags eine neue Ausgabe herstellte, ließ er sich von Kafkas Stichworten für die Textgliederung leiten, die er der Kapitelfolge als Überschriften zugrunde legte. Zwar blieb dieses Verfahren fragwürdig, aber immerhin trat durch Pasleys diplomatische Edition der Fragmentcharakter des Textes deutlicher hervor als bei Brod. Nicht, dass er nicht endet, kennzeichnet den Roman, sondern daß er gar nicht enden kann.



Anhang


In den Jahren 1911 und 1912 hatte Kafka während der Arbeit an der Novelle »Die Verschollenen« bereits erfahren, wie schnell er sich bei größeren epischen Projekten im Niemandsland seiner Assoziationen verlaufen konnte. Daraus zog er im Fall des »Prozess« wenige Jahre später eine klare Konsequenz, indem er sofort nach dem ersten das letzte Kapitel schrieb. Als der Roman 1915 abgebrochen wurde, war er ein paradoxes Fragment: ein Text, der Beginn und Schluss hatte, dem aber die letzten Brückenverbindungen im Inneren seiner Architektur fehlten.


InBei dem Roman »Das Schloss« schien Kafka nun die Situation des »Verschollenen« zu wiederholen. Abermals spann er sich in seine Geschichte ein, ohne dass er ihr Ende erreichte; nochmals arbeitete er sich wie in einem Stollen vorwärts, gelangte aber nicht zum letzten Durchbruch.


Stärker als die beiden ersten Fragmente ist »Das Schloss« auch seiner Idee nach ein Bruchstück. Der Roman bleibt von vornherein darauf angelegt, seinen Protagonisten ins Innere einer sozialen Ordnung zu führen, in der er sich wie in einem Labyrinth verirrt.



Roland Reuß' neue Edition im Rahmen der Frankfurter Kafka-Ausgabe zeigt diese Struktur auf mustergültige Weise. Der Text ist wie schon bei den vorausgehenden Ausgaben ganz aus der Handschrift ediert, das heißt, dass er das Manuskript mit seinen Streichungen und Korrekturen dokumentiert. Die sechs Schreibhefte, die das Romanfragment bilden, werden in ihrer materiellen Struktur so genau wie möglich wiedergegeben. Dazu gehört, dass neben der kritischen Erfassung des Textes, seiner Streichungen und Varianten auch die Manuskriptseiten im Faksimile erscheinen.


Auf diese Weise rückt, wie schon mehrfach an früheren Bänden der Ausgabe gerühmt, der Schreibprozess selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die unterschiedlichen Textschichten mit ihren Streichungen, Überschreibungen oder Korrekturen werden ohne Eingriffe des Herausgebers dargeboten. Durch ein schlüssiges Dokumentationssystem lässt sich die jeweilige Stufe der von Kafka vorgenommenen Textänderung über die graphische Wiedergabe gut erfassen. Da gleichzeitig die Möglichkeit besteht, einen Blick auf die faksimilierte Manuskriptseite zu werfen, kann man den Schriftduktus direkt zum Vergleich mit der gedruckten Dokumentation heranziehen. Komplizierter wird es nur dort, wo längere Passagen gestrichen und neu erarbeitet werden, wie das gerade im letzten Viertel des Romans häufiger der Fall ist. Ohne aufwendiges Zurückblättern sind hier übergreifende Eindrücke und Befunde nicht zu erlangen.


Bei dem Schloss-Projekt begannen die Stockungen im Sommer 1922. Mitte September 1922 erklärte Kafka frustriert, er habe "die Schloßgeschichte offenbar für immer liegen lassen müssen". Bis zu seinem Tod am 3. Juni 1924 wird er das Manuskript nicht mehr anrühren und nur seinem Freund Max Brod die Lektüre gestatten.


Der Abbruch des Romans geht wohl vor allem auf die psychische Instabilität Kafkas zurück, der im Herbst 1922 mehrfach Angstattacken erlitt. Das Manuskript, das gegen Ende ungewöhnlich lange Streichungen enthält, offenbart jedoch auch formale Probleme: Anscheinend hatte Kafka Schwierigkeiten, die zunehmende Zahl von Figuren und Erzählsträngen noch miteinander in Einklang zu bringen.


Kafkas Bewunderer und engster Freund in Prag, der Schriftsteller Max Brod (1884 bis 1968), war die treibende Kraft für die wenigen Buchveröffentlichungen zu Lebzeiten. Nach Kafkas Tod zögerte er nicht, unverzüglich mit der Herausgabe seiner Schriften zu beginnen; den Anfang machte 1925 der »Prozess«-Roman, mit dem der Weltruhm begründet wurde.


Zu Lebzeiten Kafkas erfuhr die Öffentlichkeit nichts vom Schloss-Roman. Max Brod gab das Werk jedoch schon 1926 aus dem Nachlass heraus (Kurt Wolff Verlag, München), wobei er zwei Episoden wegließ, die er für unfertig hielt. Die langen, gestrichenen Passagen, die für das Verständnis des Romans nicht unerheblich sind, erschienen dann erst in späteren Ausgaben (Schocken Verlag, Berlin 1935 und New York 1946; S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1951). Das Manuskript, das aus sechs Heften besteht, befindet sich heute in der Bodleian Library in Oxford.


Der Verlag erkannte bald, dass die Übersetzungen schlecht waren und wünschte sich 1940 einen "völlig anderen Ansatz". 1961 erhielt Malcolm Pasley Zugang zu allen Werken von Kafka mit Ausnahme von »Der Prozess« und legte sie in der Bodleian Library in Oxford ab. Pasley und ein Team von Wissenschaftlern (Gerhard Neumann, Jost Schillemeit und Jürgen Born) veröffentlichten die Werke 1982 im S. Fischer Verlag.


»Das Schloß« erschien in diesem Jahr als zweibändiges Set - der Roman im ersten Band und die Fragmente, Streichungen und Aufzeichnungen des Herausgebers im zweiten Band. Dieses Team stellte den vollständigen und unvollständigen deutschen Originaltext wieder her, einschließlich Kafkas einzigartiger Zeichensetzung, die als entscheidend für den Stil angesehen wird


Als Malcolm Pasley 1982 für die Kritische Edition des Fischer-Verlags eine neue Ausgabe herstellte, ließ er sich von Kafkas Stichworten für die Textgliederung leiten, die er der Kapitelfolge als Überschriften zugrunde legte. Zwar blieb dieses Verfahren fragwürdig, aber immerhin trat durch Pasleys diplomatische Edition der Fragmentcharakter des Textes deutlicher hervor als bei Brod.

Samstag, 24. September 2022

Auf Spurensuche nach Kafkas Schloss


Es ist ein großes Rätsel der Literaturgeschichte: Wo liegt nur, Kafkas Schloss? Nun gilt es, dem Geheimnis des Schlosses auf die Spur zu kommen, welches doch gar kein Schloss im eigentlichen  Sinne ist. Es geht dabei um die räumliche Verortung des geheimnisvollen Ortes, welcher gar kein richtiges Schloss im eigentlichen Sinne ist.

Das Schloss ist bei Kafka vor allem eine Frage der Vorstellung. Soll man sich das Schloss des Grafen Westwest, der den Landvermesser angeblich hat kommen lassen, vorstellen wie das düstere Schloss des Grafen Orlok in Murnaus »Symphonie des Grauens«? Oder gleicht es dem Prager Hradschin oder einem anderen Schloss im Böhmischen?

Kafka liefert in dem Text eine recht brauchbare Beschreibung des Schlosses, an der man sich bei der Spurensuche orientieren kann. „Es war weder eine alte Ritterburg, noch ein neuer Prunkbau, sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinanderstehenden niedrigeren Bauten bestand; hätte man nicht gewußt, , daß es ein Schloß ist, hätte man es für ein Städtchen halten können.“

Wer hätte das vermutet? - Das Schloss erweist sich als eine recht seltsame Ansammlung von niedrigen Häusern und nicht etwa als zu erwartender Prunkbau. Es ist ein recht elendes Schloss, und das darunter liegende Dörfchen, das aus Dorfhäusern zusammengetragen ist. Zudem bietet das Schloss weder dem Tor zum oberen Dorf noch dem Tor zum unteren Dorf eine Schauseite. Die eigentliche Prunkseite ist dem Garten zugewandt, der von hohen Mauern umschlossen ist, nicht einsehbar.

Die Beschreibung des Schlosses ist jedoch merkwürdig, denn das Schloss entspricht K.s Erwartungen, aber sicherlich nicht denen des Lesers, der sich unter einem Schloss eher einen „Prunkbau“ oder die alte „Ritterburg“ vorstellt, als eine Anlage, die einem kleinen Städtchen ähnlich sieht. Diese Darstellung steht im Kontrast zu dem was man sich gemeinhin unter einem Schloss vorstellt.

K. scheint hier zum ersten und vielleicht zum letzten Mal kurze Erkenntnis zu gewinnen. „Nun sah er das Schloß deutlich umrissen in der klaren Luft.“ So deutlich wird er das Schloss im Laufe des Romans nie wieder erkennen.

Einiges spricht dafür, den Geburtsort von Kafkas Großvater für den Ort des Schlosses zu halten. Aufschlußreich ist hier ein Artikel des profunden Kafka-Kenners Klaus Wagenbach in der ZEIT.

Das Dorf Woßek besteht aus zwei Teilen. Der größere liegt in einer Senke, an einem Teich, der kleinere, einige hundert Meter entfernt, auf einer Anhöhe. Das gesamte Dorf ist klein: Heute wohnen dort etwa hundertfünfzig Menschen. Von Radomischl kommend, betritt man zuerst das Unterdorf, eine Zeile von wenigen Häusern links und rechts der Straße, die auf den Dorfanger mündet. Am Anger liegt – und lag schon immer – ein Gasthaus. Vom Anger ab teilt sich die Straße. An der Ecke steht eine kleine Kapelle, unter der nach halbrechts führenden Straße fließt der Teich ab. Diese Straße führt zu einem auf der Anhöhe liegenden Schloß. Die andere Straße, halblinks, läuft im Bogen durch freies Feld, ebenfalls auf die Anhöhe, in das um das Schloß gruppierte Oberdorf, und dann weiter nach Kbelnitz.

Kafka kannte mit Sicherheit Woßek, wahrscheinlich schon von Besuchen des Großvaters her, gewiß aber sah er es anläßlich des Begräbnisses, damals sechseinhalb Jahre alt, Schüler der Prager Deutschen Volksschule am Fleischmarkt. Als ältester Sohn der Familie war er nach jüdischer Sitte verpflichtet, am Begräbnis des Großvaters teilzunehmen. In den folgenden Jahren war er wohl noch einige Male in Woßek, als Gymnasiast während der Schulferien, die er öfters bei einer Tante in Strakonitz verbrachte. Danach besuchte Kafka Woßek sehr wahrscheinlich niemals wieder – die Gründe liegen auf der Hand: Es war der Ort des Vaters, der geographische Fixpunkt jener Berichte von den Leiden seiner Kindheit, die zu den Haupterziehungsmitteln des Vaters gehörten.

Zitiert aus: Klaus Wagenbach, »Wo liegt Kafkas Schloß?«, »DIE ZEIT«

Anhand dieser recht genauen Schilderung drängt sich der Eindruck auf, daß Klaus Wagenbach bei seiner Recherche auf den Spuren des Großvaters Kafkas Schloss tatsächlich gefunden hat.