Samstag, 23. März 2024

»Das Schloss« Interpretation



Franz Kafkas Werke sind nicht eindeutig zu interpretieren, aber man kann sich ihnen auf unterschiedliche Weise nähern. Man kann all diese möglichen Interpretationen und Auslegungen für "richtig" halten – solange man sich nur bewußt bleibt, daß man diesen Roman mit keiner von ihr ganz besitzt und daß jede mindestens ebenso viel über ihren Urheber aussagt wie über das Buch.

Der Roman eröffnet eine enorme Bandbreite an möglichen Deutungen und lässt den Leser nachdenklich zurück. Er hat etwas Offenes, Unabgeschlossenes und nicht Greifbares. Nichts ist sicher und gesichert, für die Hauptperson K schon gar nicht. Zunächst versteht man überhaupt nicht, warum K sich so in seinen Wahn hineinsteigert ins Schloss zu kommen, oder warum sich die Dorfbewohner so schikanieren lassen von den Schlossbeamten. Erst nach und nach wird klar, dass es um Lebenserfahrungen gehen könnte, die wir auch heute machen. Das Schloss ist so gesehen eine Metapher.

Es zeichnet die Spur einer elementaren menschlichen Bewegung, der Bewegung auf ein Ziel, das sich während dieser Bewegung als immer unerreichbarer enthüllt, so wie jeder Fetzen der Wirklichkeit selbst sich unter dem forschenden Blick abenteuerlich kompliziert und immer uneinnehmbarer wird. Die Tücke des Objekts Kafkas trauriger Held trifft auf einen Gegenstand, der sich für das Interesse des Neugierigen rächt, indem er wächst und dem Herausforderer seine Kleinheit beweist.

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Man kann biografisch ansetzten: sicherlich hat sein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater seine Literatur beeinflusst. Allerdings, wenn man seinen Biografen Glauben schenken darf, scheint er auch selbst ein schwieriger Mensch gewesen zu sein und nicht unbedingt für das praktische Leben tauglich. So finden sich sicher auch Züge Kafkas in der Person K. wieder.

Aber auch soziale (siehe die Lebensumstände der Personen), psychoanalytische (Rolle der Frauen) oder religiöse (hat nicht jeder auf irgendeine Weise Schuld auf sich geladen?) Ansätze sind denkbar. Es bleibt letztlich jedem einzelnen Leser überlassen, zu welcher Interpretation er bei einer Annäherung an die Person von Franz Kafka tendiert.

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Das geheimnisvolle Werk, das in seinen Beschreibungen wage ist, gibt damit vielen unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten des Textes freien Raum und stachelt damit die Phantasie des Lesers an.

»Das Schloß« ist ein unvollendet gebliebener Roman. Dieser Umstand der Unfertigkeit läßt viele Fragen offen und ergibt Spielraum in der Interpretation. Kafka ist somit offen in der Interpretation. Somit kann leder in diese Geschichte das hineinlesen, was ihn anspricht und bewegt und so das Buch durchaus auch als dystopische Vorhersage aktueller politischer Entwicklungen sehen. Die Versuche der Interpretation dieses Werkes sind vielfältig - sie reichen von einer Art Autobiographie (K. = Kafka) bis hin zu einer prophetischen Vision einer Dystopie.

Aber wir sind nicht gut zu Hause in der gedeuteten Welt, wußte bereits Rilke.


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Der Roman ist in der Person, der komplexen Persönlichkeitsstruktur und Psyche Kafkas angelegt. Und er ist sozusagen eine Projektion seiner eigenen Person, gründend auf seiner Herkunft, seinen Beziehungen  und recht verschiedenartigen  Erfahrungen in seinem Leben.

Da sind zunächst seine Familie. Vor allem der dominierende und gestrenge Vater, war ein entscheidender Bezugspunkt im Leben von Franz Kafka. Der Einfluß des Vaters ist ebenso bestimmend wie der vom Vater erzeugte Schuldkomplex und der Ausdruck von Schuldgefühl, als Sohn nicht den Anforderungen des Vaters zu entsprechen.

Hinzu kommt noch die Erfahrung in seinem Beruf. Als Angestellter einer Versicherungsgesellschaft war Kafka mit der Verwaltung von Kunden und bürokratischen Vorgängen vertraut, er hatte also Erfahrung im Umgang mit der Bürokratie.

Kafka war ein stets von Zweifeln geplagter Mensch, denn er haderte mit sich selbst und die Zweifel sind in der Außergewöhnlichkeit seiner Literatur begründet.

All diese Umstände und Einflüsse auf sein Leben sind in sein spätes Werk eingeflossen und wurden dort innerlich verarbeitet und stark verfremdet dargestellt, ohne daß sich autobiografische Bezüge herstellen lassen.

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Der vielschichtige Roman ist eine düstere Parabel auf die undurchdringliche bürokratische Welt und das Wirken anonymer Mächte, welche das Leben der Menschen bestimmen und beherrschen und das ungute Gefühl der Beherrschtheit wecken.

»Das Schloss« und seine Umgebung sind eine verlorene Welt. Hier gibt es nichts zu finden, aber viel zu rätseln. In dieser Umgebung führt kein Weg in das Schloss und damit zum Ziel. Ist ein Ort der Vergeblichkeit.

»Das Schloss« ist eine zeitlose Parabel auf  Sinnlosigkeit menschlichen Strebens und die Unmöglichkeit an ein Ziel zu gelangen. Das sinnlose Streben des Landvermessers ist ein Beispiel für ein zielfreies Leben.

Das Schloss, das zu erreichen zunächst K.s Ziel ist, rückt immer weiter in den Hintergrund. So sieht K. es zu Beginn noch über dem Dorf aufragen, nur um dann festzustellen, dass man ihm scheinbar nicht näherkommen kann, oder es von der ungewöhnlich schnell eintretenden Dunkelheit verschluckt wird. Nur die wenigsten Dorfbewohner haben direkten Kontakt zum Schloss oder gehen dort gar regelmäßig ein und aus. Keine Straße scheint wirklich dorthin zu führen und kein Wagen möchte K. dorthin bringen. Und dennoch kontrolliert das Schloss oder eher sein unendlich groß wirkender Beamtenapparat das Dorf und K. erlebt die Ohnmacht gegenüber einer undurchsichtigen Bürokratie. Eine hier durchaus übertrieben dargestellte und dennoch wahrscheinlich vielen Lesern vertraute Erfahrung.

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Für Kafka waren Anonymität und Undurchschaubarkeit menschliche Grunderfahrungen des modernen Zeitalters. So spielt »Das Schloss« in einer undurchschaubaren Welt, die namenlosen Mächten gehorcht und in der es für den unglücklichen Landvermesser K. einfach kein An-das-Ziel-Kommen geben wird.

Der Roman ist eine schillernde Parabel für das Ausgeliefertsein an anonyme Mächte, die im dem Roman als unzugängliche Beamten auftreten. Ein der Anonymität ausgelieferter und von hörigen Einwohnern, welche sich der Macht beugen und fügen, umgebener Mensch, welcher den Beamten hilflos ausgeliefert ist, ist das zentrale Element des Romans.

In Form einer Parabel auf die Existenzsituation des Menschen der Moderne schildert Kafka, wie eine anonyme Macht – das Schloss – die Sehnsucht des Menschen nach Wahrheit und Sinn manipuliert, den Suchenden bannt, unterdrückt und vernichtet.

Das Werk lebt geradezu von der Undurchschaubarkeit der Vorgänge. Kafka nimmt in dem Roman schon die grundlegenden Probleme vorweg, welchen der Mensch der Moderne ausgesetzt sein wird: Ausgeliefertsein an anonyme Mächte und eine übermächtige Bürokratie.


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Ein Umstand, der sich sehr gut interpretieren lässt, ist der Zusammenhang zu seinem anderen Werk »Der Prozess«. Die Interpretationen der beiden zwillingshaften Werke sind Legion. Manche vermuten, die Werke könnten autobiografischen Hintergrund haben, sie weisen auch theologische Bezüge auf.

In höherem Maß als »Der Prozess« verweigert sich »Das Schloss« eindeutigen Interpretationsversuchen. Bietet der Roman »Der Prozess« mit Begriffen wie »Gesetz«, »Gericht« oder »Schuld« noch konkreten Assoziationsfreiraum, liefert »Das Schloss« solche Anhaltspunkte kaum mehr. Dies bedingt vor allem die den Aufbau bestimmende Kreisstruktur, die als zentrale Grundfigur des Romans alle geschilderten Ereignisse, Dialoge und Erzählebenen dominiert: K.s Versuche, ins Schloss zu gelangen, führen ihn stets kreisförmig an den Ausgangspunkt zurück; aussichtsreiche Gespräche enden, ohne dass K. Aufklärung erhalten hätte.

K. hat keine Möglichkeit der aktiven Auseinandersetzung mit der ihm gegenüberstehenden Ordnung. Diese entzieht sich jeder Überprüfbarkeit und Erfahrbarkeit. Alle Widersprüche und Absurditäten dieser Ordnung sind unangreifbar. Darin liegt K.s Unfreiheit und die aller anderen Romanfiguren. Der Roman ist die große Parabel der Moderne und Postmoderne, ein visionäres Meisterwerk, aktueller denn je, Meta-Literatur, eine Lektüre-Herausforderung, die jeden Leser (über-)fordert.

Der »Schloss«-Roman knüpft dabei an die Grundsituation des »Prozess«-Manuskripts von 1914 an. Auch hier geht es um einen Einzelnen, der mit Strategien der Verdrängung, der Unwahrhaftigkeit und des Selbstbetrugs gegen eine schwer durchschaubare Ordnung kämpft. Und wieder ist die scheinbar fremde Gegenwelt in Wirklichkeit Teil des Protagonisten: ein seelischer Apparat eher als ein soziales Machtsystem.

Wie das Unbewusste des Menschen funktionieren die Maschinerien der Schloss-Bürokratie, deren Beamte von ihrem sexuellen Verlangen getrieben, von Dauermüdigkeit übermannt, von Ängsten überrollt werden.

Wie das Unbewusste arbeitet die Verwaltung des scheinbar nahen Schlosses, denn sie vergisst nichts, speichert alles und lässt es in überraschenden Momenten wieder aus sich hervortreten. Kafkas soziale Schreckenssysteme sind deshalb so fürchterlich, weil sie Versionen unseres Ich, Vexierspiele der Psyche und Manifestationen des Unbewussten bilden.

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Das Schloss ist der Sitz einer Behörde, welche das Grauen der modernen Existenz orchestriert. ۚDer Roman steht für die Vergeblichkeit menschlichen Tuns und Ausweglosigkeit der Moderne. K.s sinnloses Streben ist eine Geschichte, die unweigerlich auch an die Situation vieler Flüchtlinge heutzutage erinnert: der Kampf mit der Bürokratie, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, der Wunsch, einen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Nichts ist erreichbar, das Ziel unendlich fern. Und so wird »Das Schloss« zum Symbol für die Unerreichbarkeit menschlichen Strebens. Das Schloss lag still wie immer. Niemals gab es das geringste Zeichen von Leben. Und es war nicht möglich, aus der Ferne etwas zu erkennen.

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In Kafkas Roman ist die durch die Beamten ausgeübte Macht bloßer Selbstzweck, sie legitimiert sich durch die Handlungen der Beamten selbst. Am augenfälligsten ist Kafkas Kritik der Bürokratie anhand der Bewohner des Schlosses. Der ganze Lebensinhalt der Schlossbewohner scheint die Aufrechterhaltung der Bürokratie zu sein.

Der Gegenstand der bürokratischen Tätigkeiten bleibt größtenteils im Dunkeln. Es scheint auch völlig irrelevant zu sein, denn der Ablauf, das Akten studieren, das Schreiben und die Kontrollbehörden scheinen wichtiger als jegliche Inhalte. Die Bürokratie selber scheint also das wichtige zu sein, nicht der ursprüngliche Grund für den bürokratischen Aufwand. Der behördliche Apparat wirkt so, als ob das Verwaltungswesen sich selber legitimisiert, jedoch sonst nach außen nichts löst.

Der Kampf gegen die Bürokratie erscheint als vergebliche Mühe. Es sind Wonnen der Vergeblichkeit, die der Landvermesser empfängt. Ein Beispiel für die satirische und überzogene Darstellung des behördlichen Schaffens ist die Szene, in der K. früh morgens im Herrenhof die Verteilung der Akten an die Sekretäre beobachtet und stört. Geradezu ironisch wirkt K.s Wahrnehmung des Verwaltungswesens. Die Arbeit der Beamten wirkt sinnlos und unnötig. Sie erledigen ja nichts, außer die amtliche Tätigkeit selber.

Die Schloss-Bürokratie ist derart übersteuert, dass sie selbst Routinefälle zu erledigen nicht mehr in der Lage ist. Jede Kleinigkeit führt zu einem riesigen bürokratischen Aufwand, der jahrelange Besprechungen und Kontrollen erfordert. Die Inhalte der Akten scheinen nicht zu interessieren, die Tätigkeit der Schlossbeamten beschränkt sich scheinbar nur auf die Form.

Geradezu ironisch wirkt K.s Wahrnehmung des Verwaltungswesens. Die Arbeit der Beamten wirkt sinnlos und unnötig. Sie erledigen ja nichts, außer die amtliche Tätigkeit selber.

Kafka war Beamter einer Versicherungsgesellschaft, der mit vielen behördlichen Vorgängen und der Verwaltung von Akten bestens vertraut war. Die behördlichen Schloss-Instanzen können als Funktionen Kafkas angesehen werden.     

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In Kafkas Romanen spielt die Verwaltung von Akten und das Sammeln von Daten eine zentrale Rolle, am auffälligsten in dem Werk »Das Schloss«, wo unentwegt von Akten die Rede ist. Auch das hat mit irgendwelchen hellseherischen Fähigkeiten Kafkas wenig zu tun, viel jedoch mit seinen beruflichen Erfahrungen: Er war Angestellter einer staatlichen Unfallversicherung, und er begriff sehr schnell, dass der statistische Zugriff, der für diese Branche typisch ist, etwas grundlegend Neues und Beängstigendes war. Auch in Kafkas Büro wurden Lebensläufe zu Akten, und individuelle Katastrophen wurden zu versicherungsmathematischem Material.

Kafka spürte, dass diese moderne Art von Verwaltung das Denken der Betroffenen verändert. Wer mit einer solchen Behörde zu tun hat, kann gar nicht anders, als sich ihren Routinen gedanklich anzupassen und alle darüber hinausgehenden Ideen – etwa die Frage, ob man „gerecht“ behandelt wird – für den Augenblick zu vergessen.

Die Arbeit der Beamten wird geradezu fragwürdig in den Schilderungen des Vorstehers.
„Die Menge der Akten ist so groß, daß sie gar nicht gleichzeitig bearbeitet werden kann. Wenn die Aktenberge ‚immerfort’ einstürzen, so kann man keinen einzelnen Akt mehr anders als durch Zufall finden und bearbeiten.“

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Rätselhaft und geheimnisvoll ist der Roman. Das ameisenhafte Gewusel und leere Getriebe der Schlossbehörde und das seltsam knechtische Verhältnis der Dorfbewohner zum Schloss bleibt unergründlich.

In dem Roman geht es auch um Ausübung von Macht gegenüber der Bevölkerung. Die Akte der Behörde sind Willkürakte, gegen  die man sich erwehren kann, aber leider ohne Erfolg. Kafka schildert eine trostlose und skurrile Welt, die von einer undurchschaubaren Macht gesteuert wird.

Das Schloss steht für die Macht der Beamten und die Machtlosigkeit der Dorfbewohner als ihrer Opfer. Die Dorfbewohner sind die der Macht ausgesetzten Opfer. Kafka schildert nicht nur, wie Menschen zu Opfern werden – was literarisch noch nicht besonders verdienstvoll wäre –, vor allem zeigt er, wie sehr die Macht darauf angewiesen ist, dass ihre Opfer „mitmachen“. Die Beamten führen dabei keine eigenen Akte aus, sondern verwalten sich quasi selbst.

Es ist schon seltsam, wie die scheinbar Untergebenen immer mehr Macht an den Tag legen, wie sie jeden Fortschritt des Protagonisten in Richtung Schloss zu verhindern wissen. Sein Zugang zum Schoß wird durch labyrinthisch erscheinende Dienstwege erschwert.

In K.s Bewußtsein besteht eine übermäßige Rangdifferenz zwischen ihm und der Behörde. Er spricht davon, daß der Machtunterscheid zwischen der Behörde und ihm so ungeheuerlich war, d aß alle Lüge und List, deren er fähig gewesen wäre, den Unterschied nicht wesentlich zu seinen Gunsten hätte herabdrücken  können.“

Aber auch die Beziehungen der Dorfbewohner untereinander hat etwas Befremdliches. denn. irgendwie scheint das ganze Dorfleben wie von ferner Hand gesteuert vom Schloss nebenan.

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Die bekannteste und sinnfälligste Interpretation des Romans aber ist wohl jene von Max Brod, der das Schloss und K.s Streben, dort Einlass zu erlangen, als Symbol für Gott ansieht, das Schloss als Ort der Gnade empfindet  und quasi eine in sieben Tagen stattfindende, biblisch angehauchte Schöpfungsgeschichte daraus macht. So tragen einige Figuren biblische Namen, so etwa Barnabas, der als Vermittler zwischen K. und dem Schloss auftritt.

Von dieser Sichtweise ausgehend, erscheint das von Brod überlieferte Ende des Romans besonders bedeutungsvoll: K. Anstrengungen, in das  Schloss zu gelangen, enden in seinem Tod, am Sterbebett trifft jedoch ein Brief von diesem Schloss ein, daß ihm letztendlich doch gestattet wird, im Dorf zu leben. Mit dieser kafkaesken Wendung erhält K wenigstens teilweise Genugtuung.

Ob das Schloss nun der Ort der Gnade ist, wie Kafkas Freund Max Brod vermutete, oder der Sitz einer Behörde, die das Grauen der modernen Existenz orchestriert, oder ein Nichts, zu dem kein Weg führt – bleibt aber letztlich doch ungewiss.